Die letzten Badegäste.

Novellette von Ralph v. Rawitz.
in: „Auer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge” vom 14.09.1909


Heinz Sievers saß auf einem Felsblock, der durch Wände und Halden etwas vor dem steifen Südost geschützt war und doch einen guten Ausblick auf die ganze Bucht gestattete. Der junge Arzt hatte die Strandmütze tief in das Gesicht gedrückt, den Paletotkragen emporgeschlagen und die Hände in die Taschen versenkt, denn es war trotz Sonnenschein und stellenweise blauem Himmel schon empfindlich kühl; der Herbst machte seine Rechte geltend. Auch die See mußte seine Herrschaftsgelüste fühlen und tobte, grünen und weißen Schaum verspritzend, um die rot-braunen Klippen der Insel. Der Dampfer, der etwa einen Kilometer vom Lande entfernt, noch in geschütztem Wasser der Bucht lag, schwankte bedenklich hin und her. Dorthin richtete Sievers seine Augen, nachdem es ihm endlich gelungen war, die Morgenzigarre in Brand zu bringen.

Sie werden keine leichte Ueberfahrt haben, die Herrschaften, die heute mit dem Asathor heimkehren, sagte er vor sich hin. Aber es wäre ungerecht, jetzt Ruhe und Veilchenfarbe von dem lieben, alten Ozean zu verlangen, wie in Julitagen. Der Sommer ist hin, der September regiert mit Macht. — Aha, da kommen schon die Boote mit den Abfahrenden! Alle Wetter, wie die schwanken! — Na! Nun hab ich Ruhe! Endlich Ruhe! Der nächste Dampfer geht erst und kommt in vierzehn Tagen! Extrafahrten gibt es auch nicht mehr! Ach! Welch' behagliches Gefühl, der letzte Kurgast auf dieser schönen, weltfernen Insel zu sein! Ganz allein zu sein! Ganz allein zu sein mit den derben, treuherzigen Seebären und ihren Ehefrauen! Jetzt werde ich mein Leben herrlich einrichten! Morgens wird eine Klippenpromenade um die Nordspitze herum und zum Leuchtturm gemacht; dann folgt Frühstück bei meinen Wirtsleuten, einfach aber kräftig. Darauf Siesta an dieser Stelle. Dann Mittag; hiernach ein Schläfchen. Nach dem Kaffee großer Abendbummel bis zur Dämmerung und bis der Leuchtturm aufblitzt. Dann frühe ins Bett mit einem guten nordischen Buch: Jonas Lie, Holger Drachmann oder auch die Edda. Ach! Das wird großartig werden! Um so großartiger, als mir der ganze Sommer in einer niederträchtigen Weise verbittert worden ist! Durch sie, die jetzt dort soeben den Asathor besteigt und den Winterfesten in der Heimat entgegendampft. Bestrafe sie ordentlich, Neptun! — Mit welchen Hoffnungen kam ich im Juli hierher! Keinen Menschen aus meiner Heimat hoffte ich hier anzutreffen, kaum deutsche Landsleute! So einmal nichts zu hören von dem Hasten und Treiben der Großstadt, mich recht zu erholen nach den Anstrengungen der Praxis und der Geselligkeit! Und kaum setzt mich der Dampfer, der dort jetzt die Anker lichtet, hier ans Land, kaum habe ich fünf Schritte auf die Landungsbrücke gesetzt, da steht sie vor mir! Sie — die Person, die ich am meisten verabscheute! Die mir schon zu Hause so widerwärtig war, wie ein Basilisk! Sie, Melanie von Seddin, die vielumschwärmte, sich selbst natürlich furchtbar interessant vorkommende Witwe! Bei diesem Südost wird wohl alles Interessante flöten gehen!

Er richtete das Glas nach dem Dampfer, der jetzt seine Fahrgäste an Bord genommen hatte, und mächtige Rauchwolken ausstoßend, in das offene Fahrwasser hinaussteuerte. Es ist zu weit, ich kann einzelne Personen nicht erkennen, fuhr Dr. Sievers fort, aber ich kann sie mir doch recht gut vorstellen, wie sie jetzt inmitten eines Kreises bewundernder Kavaliere in malerischer Pose dasteht und geistvolle Konversationen macht. Denn das ist ja der Inhalt ihres Lebens: Sich bewundern lassen, Toiletten zeigen, Theater besuchen, — alles nur, um die eigene Persönlichkeit schauzustellen. Herz, Gemüt? Keine Spur! Blenden! Männer fangen! Das ist ihr ja auch hier gelungen, bis auf — mich. Und deshalb haßt sie mich! Deshalb die feindselig-ironische Miene! Nein, verehrte Baronin! Mir imponiert weder Ihr Adel, noch Ihre Schönheit, die ich freilich zugebe, weder Ihr Geist, noch Ihr Vermögen! Und ich danke Odin, dem Herrscher über nordisches Land, daß Sie jetzt dort fortdampfen — immer 'rin ins Vergnügen! Adieu! Adieu!

Er setzte den Krimstecher wieder an das Auge und sah dem stolzen Schiff nach, an dessen Bug weiße Wellenberge zerstiebten. Er blickte ihm nach, bis es nur noch ein Pünktchen geworden war, bis es ganz in der tosenden Wasserwüste versank. Dann seufzte er: Adieu! Aber es klang nicht wie völlige Befriedigung und erleichterndes Aufatmen. Langsam erhob er sich und schritt zum Dorf zurück, wo ihn ein melancholisches Bild erwartete: Die Fischer gingen daran die Sommerwohnungen der Gäste für den Winter herzurichten. Hier wurden Möbel geklopft, dort Strandkörbe und Bänke in die leeren Stuben getragen, da Fenster und Türen gegen die Hauptwindrichtung Nordost mit Planken und Latten versetzt. Die Gastwirte nahmen die Aushängeschilder von den Türen, die Halle mit den Auslagen für Andenken und Reiseartikel war schon zur Hälfte abgebrochen, aus dem modischen Barbier und dem sprachgewandten Zigarrenverkäufer waren zwei derbe Seebären geworden, die mit Kneifzange und Hammer emsig hantierten. In den Vorgärten blühte nur noch hier und da eine tiefrote Georgine oder eine blaue Aster. Es war die Zeit und die Stimmung der Resignation, die jetzt herrschte. In Gedanken verzehrte Heinz Sievers sein Mittagessen, das ihm auf seiner Stube serviert wurde, denn der Speisesaal war schon geschlossen und der deutschsprechende Kellner auch mit dem Asathor schon abgefahren. Danach versuchte er ein wenig zu lesen, aber das Buch machte ihn nervös: Es war da der Untergang eines schönen Dampfers geschildert — — entsetzliche Szenen — — —

Pfui — wie kann man nur so etwas schildern! sagte der Arzt. Das Leben selbst ist schon ernst genug, und wenn ich lese, will ich mich erheitern! — Wie weit der Asathor wohl sein mag? — Er nahm Hut, Paletot und Stock und ging wieder zum Strande hinunter. Der Wind war nach Steil-Ost herumgegangen, die See brüllte. Hin und wieder ging auch ein Regenspritzer nieder, die Sonne hatte sich schon lange versteckt. Die Fischer saßen jetzt wohl gerade beim Kaffeetopf, auf der Dorfgasse einige Kinder, unbekümmert um Wind und Wellen in bloßen Hosen, flatternden Röcken und nackten Füßen. Sievers schwankte noch, ob er sich hierhin wenden, ob er einen anderen Weg in das Innere der Insel einschlagen sollte, da erklang vom Strande her der schrille Schrei einer Kinderstimme. Die Bedeutung des Rufes war nicht zu verkennen. Das war kein jubelndes Aufjauchzen beim Spiel, sondern der Ausdruck eines Schmerzes oder der Angst. So schnell es der Sturm und der steinige Boden erlaubte, sprang Dr. Sievers nach dem Ufer hinunter; schon auf halbem Wege begegnete ihm ein Kind, das ihm in gebrochenem Deutsch — die Kinder lernen leicht von den Kurgästen einige Brocken — und mehr noch durch Zeichen bemerkbar machte, es habe sich unten jemand den Fuß verletzt. Wer? — Sven Torklild — ein Fischerjunge. — Dr. Sievers stieg weiter hinunter und sah bald den Knaben auf einer glitschrigen Felsplatte liegen, über die das Meer hin und wieder seinen Sprühschaum hinwegsandte. Ein Weib mühte sich um das Kind und hielt seinen Kopf auf dem Schoße, ihre Gewänder waren durchnäßt und von dem scharfen Wind eng an den Körper gepreßt. Jetzt schlug sie zu dem Arzt die Augen auf, zwei große blaue Augen. Mein Gott — gnädige Frau — Sie noch hier? — Sievers wäre vor Ueberraschung beinahe selbst auf dem glatten Boden zu Fall gekommen. — Ich denke, Sie sind mit dem Asathor heimgekehrt? — Sie schüttelte den Kopf und deutete dann auf das Kind: Helfen Sie mir! Es ist beim Spielen ausgeglitten; ich saß hier und habe es mit angesehen. Sievers nahm den Jungen in die Arme und trug ihn zu einer weniger dem Sturm und der See ausgesetzten Stelle; dort untersuchte er das verletzte Glied und stellte einen einfachen Fußbruch fest. — Sechs Wochen in Gips, dann ist die Geschichte wieder gut. Aber wie ihn hinaufbefördern? — Ich habe schon ein Mädchen nach dem Dorf hinaufgesandt, erwiderte die Baronin. — Sie sind ja völlig durchnäßt, gnädige Frau! Ich rate, sich sofort auch hinaufzubegeben und die Kleider zu wechseln. — Nein, nein! Der Junge liegt auf meinem Schoße leidlich gut. Weine nicht, Sven, weine nicht, mein Blondkopf! Es wird ja alles wieder heil. Der gute Doktor wird dir schon helfen. — Das Kind verstand die Worte nicht, aber es fühlte im Klange der weichen Stimme die Tröstung. Auch das Wort Doktor entging seinem Ohr nicht und es sah dankbar zu den beiden Fremden empor. Melanie beugte sich über die blasse kleine Stirn und küßte sie. In Sievers stieg in heißes Gefühl auf; eine unvorsichtige Frage drängte sich auf seine Lippen. Was in aller Welt hat Sie bewogen, in diesem öden Nest zu bleiben, Baronin? Sie, die große Dame der Welt? — Wie ein Zittern lief es durch ihren schlanken Körper. Dann sah sie zu ihm auf, legte einen kühlen Ausdruck in die Augen und sagte: Und was in aller Welt hat den großen Chirurgen und Salonlöwen an diese weltferne Insel gebannt? — Ich — Salonlöwe — —? Ich, der die Stille liebt! — Und ich Weltdame? Ich würde lachen, wenn dieses arme Kind hier nicht vor uns läge! —- Sie verzeihen mir, wenn ich Sie widerlege. Wer ist der Stern aller geselligen Veranstaltungen in der Hauptstadt? Wer fehlt auf keinem Bazar, bei keiner Premiere? Wem begegnet man auf Bällen, in Konzerten, in den Kunstausstellungen, beim Lawn-Tennis-Turnier? Wer ist überall, nur nicht zu Hause?

Sie sah eine Weile in die graue Unruhe der See und dann wieder zu ihm auf. Er hatte eine gereizte, schneidende Entgegnung erwartet, aber die Stimme klang sanft und fast bittend. — O, Ihr Männer! Ihr Männer der Wissenschaft! Den Körper zergliedert Ihr bis in das kleinste Fäserchen, jeden Pulsschlag, jede Nervenzuckung analysiert Ihr! Und wie schlecht kennt Ihr doch das menschliche Herz! Muß man die Welt lieben, weil man sie sucht? Ist jeder, der sich flieht, ein Einsamer? Muß meine Seele dabei sein, wenn ich lache, scherze, plaudere? Wenn ich glücklich, befriedigt erscheine, wissen Sie, ungerechter Mann, ob ich es wirklich bin?? — Der Seewind blies eisig, aber dem Arzt war doch heiß geworden; er nahm den Hut ab und setzte sich dann neben die schöne junge Frau. — Sie beschämen mich mit Ihrer Güte, ich habe ja kein Recht zu fragen. — Fragen Sie ruhig weiter, lieber Doktor, wenn ich Ihnen als Objekt für Ihre — manchmal freilich recht grausamen — psychologischen Studien geeignet erscheine. Denn was bin ich Ihnen sonst? Er ergriff heftig ihre Hand, so daß sie zusammenfuhr. — Warum spielen Sie mit mir, Melanie?? Warum quälen Sie mich? Sie wissen recht wohl, was Sie mir werden, was Sie mir sein könnten! — Pst — pst — mein Freund! Der Junge hat Schmerzen — Und da kommen auch schon die Fischer mit einer Trage. Weine nicht, Sven, es wird alles wieder gut! — Was aber uns betrifft, Herr — Herr Heinz — so sind wir ja noch auf Wochen hinaus an dieses Eisland gebannt. Wollen wir es als Prüfungszeit betrachten? Wollen Sie? — Von ganzem Herzen! Ach Melanie! Wir Männer sind blind. — Und taub und hartherzig und übermütig. Nun, ich verspreche Ihnen, Sie sollen kuriert werden! — — Vierzehn Tage vergingen im Fluge und eines Morgens steuerte wieder der schmucke Asathor hinaus aus der stillen Bucht den fernen Küsten der deutschen Heimat entgegen. Am Heck standen, Hand in Hand, eine Dame und ein Herr, die immer wieder nach den grünumbrandeten Klippen hinüberwinkten: die letzten Badegäste.

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